Erstklassige Wanderausrüstung, nahrhafter Proviant und unübertreffliche Energie: Wenn es eine Prämie für die weltbesten Wanderer gäbe, wären die Südkoreaner heiße Anwärter. Wer sich ihnen bei Seoul anschließt, erlebt Überraschungen für Körper, Augen und Gaumen.
Jeden Samstagmorgen um 7 Uhr sind Seouls überklimatisierte Metrowaggons bereits voller Menschen mit klobigen Wanderstiefeln, langen Hosen aus atmungsaktivem Material, schweißaufsaugenden Hemden, großen Schirmmützen und kleinen Rucksäcken. Manche tragen Gesichtsmasken und Handschuhe, wobei die Ausrüstung nach Jahreszeit minimal variiert.
“Die Berge sind immer anziehend”, sagt die 23-jährige Woo Jung-Eun. Auf die Frage, warum sich die Koreaner im Hochsommer zum Wandern vermummen und ob sie dabei nicht einen Hitzeschlag erleiden, lächelt sie: “Wir möchten nicht verbrennen, also schützen wir uns mit Kleidung. Schwitzen tun wir dadurch nicht mehr als andere.” Sie beäugt abschätzig eine Amerikanerin in Turnschuhen, Shorts und Trägertop mit Schweißflecken unter den Achseln.
Die Metrodurchsagen versiegen im Geschwätz der Großfamilien und Ausflügler, die sich zu Dutzenden zusammenfinden. Seouls Verkehrsnetz ist gut vorbereitet auf die Leidenschaft seiner Einwohner: In der Nähe jedes Wandergebietes von Hauptstadt und Umgebung gibt es U-Bahnstationen. An der National University strömen viele Wanderer aus den Wagen und stürzen zum Eingang des Geländes um den 629 Meter hohen Berg Gwanak.
Kulinarische Einstimmung mit Bulgogi
Vor dem Naherholungsgebiet schärfen würzige Düfte die Luft. Wie bei fast allen Wanderparadiesen Seouls, säumen unzählige Garküchen und Stände mit Snacks und Proviant die ersten 200 Meter. Lächelnde Verkäufer empfangen die Bergliebhaber wie ein feierliches Begrüßungskomitee.
Auf Gittern brutzeln Mandu, kleine Knödel mit Fleischfüllung, und aus Töpfen strömt das Aroma marinierten Rindfleisches in gesüßter Sojasoße – Bulgogi, eine nationale Spezialität. An anderen Ständen finden sich scharf gewürztes Kimchi, hartgekochte Eier und Gimbap-Rollen. Der in Seetang gewickelte Reis mit Gemüsekern ist eine bei Südkoreanern beliebte Stärkung für Wanderungen. Plastikstäbchen gibt es gleich dazu.
Südkorea ist vom Massentourismus noch wenig berührt. Als Folge bleibt ein Ausländer, der sich in die Seouler Berge verirrt, bei der ersten Abzweigung ratlos vor den Wegweisern stehen, die in Hangul, der koreanischen Schrift, verfasst sind. Von Einheimischen auf Englisch erbetene Hilfe provoziert erschrockene Blicke und eine Unterredung mit dem Familienclan. Meist folgt bedauerndes Kopfschütteln.
Viele Versuche später trifft sich doch ein Koreaner, der des Englischen bruchstückhaft mächtig ist. Statt wertvolle Wanderminuten mit Erklärungen zu vergeuden, deutet er dem Ausländer, sich ihm einfach anzuschließen.
Die von der Bergluft belebte Gastfreundlichkeit des Koreaners, der sich als Herr Kwack vorstellt, bekommt allerdings schnell einen salzigen Beigeschmack: Selbst ein fitter Wanderer landet bald auf allen Vieren in dem waghalsigen Bestreben, Felsbrocken jenseits befestigter Wanderwege hochzukriechen. Der voranhüpfende Kwack schaut verständnislos mit schweißfreiem Gesicht herab. “Möchten Sie eine kleine Pause machen?”, fragt er nach halbstündiger Kraxelei über Stein und Fels.
Herr Kwack, ein gelenkiger Jurist aus Seoul um die 45, packt eine Rolle Gimbap aus und überreicht sie samt Stäbchen. “Ich komme jedes Wochenende in die Berge”, erzählt er. Auf die Frage, ob er immer allein wandere, formt er mit den Armen ein Andreaskreuz, was “nein” bedeutet. “Manchmal bringe ich aber auch meine Frau und zwei Töchter mit. Ich arbeite gut 60 Stunden die Woche und gönne mir nur einen freien Tag. Wandern ist meine Entspannung.”
Schreine und Tempel als Besuchsziele
Die Südkoreaner treibt nicht nur Bewegungsdrang und Naturliebe in die Berge. Über Berggebiete und Nationalparks verteilen sich auch viele Tempel und Schreine, die die Wanderer teils aus religiöser Überzeugung aufsuchen, teils, um vor erhabener Kulisse innezuhalten und durchzuatmen.
Auf einer Klippe kurz unter dem Gipfel des Gwanaksan trotzt der mit Lampions und Buddha-Figuren überzogene Yeonjudae-Pavillon dem Abgrund. Viele pausieren hier, um die Dimensionen der Metropolregion mit ihren 25 Millionen Einwohnern zu erfassen. Von den Höhen des Gwanaksam präsentiert sich Seoul als vom Menschen gemachte Wildnis aus Wolkenkratzern und Beton, die sich zügellos dem Horizont entgegenwälzt.
Ein ähnlich beliebtes Wochenendziel der Seouler ist der Bukhansan-Nationalpark im Norden Seouls. Viele Besucher strömen zu der architektonisch imposanten Dobongsa-Einsiedelei, unter ihnen Herr Jung, ein mit 1,75 Metern hochgewachsener, 52-jähriger Koreaner, der mit einem nepalesischen Freund unterwegs ist. “Dort drüben entsteht bald ein neuer Tempel”, sagt er. “Auf die Dachpfannen kann man vorher einen Segenswunsch schreiben.”
Nach dem Besuch einiger Tempel gehen Herr Jung und sein Freund zum Fluss. Hier picknicken Familien auf großen Planen, andere kühlen die Füße im Wasser. Durch die Stille unter den Baumkronen dringen die Plantsch-Geräusche der Kinder und ausgelassenes Gelächter. Und die Grüße, die vorbeiziehenden Wanderern winkend entgegengerufen werden.
Ein Land aus 70 Prozent Gebirge
Die Vorliebe der Einheimischen für Berge und Wandern begründet sich auch geografisch: 70 Prozent des Landes überziehen Gebirge. Besonders für die Hälfte der 50 Millionen Südkoreaner, die in der Metropole Seoul lebt, stellen die Berge einen wertvollen Ruhe- und Erholungspunkt dar. Außerhalb Seouls locken unter anderem der Seoraksan-Nationalpark im Nordosten, der Gyeryongsan-Nationalpark bei Daejeon und der Hallasan-Nationalpark auf der Insel Jeju, im Süden der koreanischen Halbinsel, mit gut ausgebauten Wanderwegen, Berghütten und Herausforderungen für jeden Anspruch.
Auf Jeju befindet sich der höchste Berg des Landes, der Hallasan, dessen Gipfel 1950 Meter über dem Meer liegt. “Jeder Koreaner schuldet es seinem Land, mindestens einmal im Leben diesen Berg zu besteigen”, behauptet Woo Jung-Eun. Bei klarem Wetter habe man von oben einen Blick über die ganze Insel. “Wir mögen ein kleines Land und kleine Leute sein, aber wir haben hohe Berge und viel Stolz.”
Nicht jeder Ausländer schafft es auf den Hallasan, aber eines sollte dem Besucher Südkoreas klar sein: Wer hier nicht mal an einem Wochenende wandern geht, dem entgeht ein wertvoller Einblick in die Kultur des kleinen Landes. Denn er verpasst die Gelegenheit, das koreanische Herz jenseits der mondänen Metropolen schlagen zu spüren in der wilden Natur, die einen Großteil des Landes und jahrhundertealte Sehnsüchte seiner Menschen ausmacht.
Quelle: http://www.spiegel.de/reise/fernweh/0,1518,810456,00.html
Zufällig auf diesen Blog gestoplert und ich muss sagen, die Fotos sind unglaublich beeindruckend…da bekommt man sofort wieder Reisefieber.
Tolle Arbeit, weiter so 😉
Lg Mario