Von Manfred Ertel
Es gibt ein Oktoberfest, Tempo-30-Zonen und akkurat gepflegte Vorgärten. Im “Deutschen Dorf” in Südkorea leben zurückgekehrte Gastarbeiter in einer Art Bundesrepublik im Kleinformat. Die Bewohner plagen sich mit Touristenströmen – und hadern mit ihrer Heimat.
Buim Ulmer kommt zu spät zur Verabredung, die Vorgespräche für das Oktoberfest dauerten länger als geplant. Es ist das dritte Mal, dass sie die Bier-Gaudi veranstaltet, und dieses Mal könnte die Feier alle Erwartungen sprengen.
Beim ersten Anlauf kamen sie und ihre Freunde noch mit tausend Weißwürsten aus, da war alles noch ganz einfach. Vorigen Herbst gingen schon 30.000 Würste über den Tresen. “Diesen Andrang hätten wir nie für möglich gehalten,” sagt die 65-jährige Krankenschwester, “wir kommen an unsere Grenzen.” Denn so eine Nachfrage an bayerischen Weißwürstl ist für ein kleines Dorf vor der Küste Südkoreas durchaus eine Herausforderung.Buim ist Koreanerin. Mit ihrem Mann Ulrich, 64, einem Grundschulpädagogen aus Bielefeld, lebt sie die meiste Zeit auf Namhae, einer beschaulichen Insel nicht weit von Koreas zweitgrößter Metropole Busan im Süden des Landes.
Die Ulmers wohnen im “Deutschen Dorf”. Das sieht so aus, wie es heißt: weiß gekalkte Häuser, rote Ziegeldächer, liebliche Vorgärten, Schuhe bleiben draußen vor der Haustür. Zwischen “Haus Heidi” und “Hamburg-Haus” stehen Schilder mit “Tempo 30” und “Nicht betreten”. Es gibt Brat- und Mettwürste beim Nachbarn, einem Metzger, und ein “Kaffee Bremen” am Ortseingang. Nur Gartenzwerge fehlen, die werden zu oft geklaut.
Natürlich muss es hier auch ein Oktoberfest geben, drei Tage im Herbst. Mit mehr als 10.000 Fahrzeugen rechnen sie diesmal. Südkoreaner lieben Bier, das bei ihnen “Hof” heißt – das deutsche ganz besonders. “Wo sollen nur die ganzen Autos hin”, stöhnt Buim. Ihr Dorf liegt abschüssig am Hang, die Straßen sind eng und verwinkelt.
Im Winter nach Deutschland
Seit 2006 wohnen die Ulmers hier in “Dogil Maeul”, wie es auf Koreanisch heißt. Das “Deutsche Dorf” wurde vor gut zehn Jahren gegründet. Es sollte koreanischen Krankenschwestern und Bergarbeitern, die in den sechziger und siebziger Jahren zu Tausenden als Entwicklungshelfer nach Deutschland kamen und 40 Jahre danach zurück in ihre Heimat wollten, ein neues Zuhause bieten. Leuten wie Buim und Ulrich.
Buim kam 1970 nach Deutschland, mit 23 Jahren. Sie war eine von rund 10.000 Pflegerinnen aus Südkorea, die von ihrer Regierung geschickt wurden. Es war ein einträgliches Gegengeschäft. Die jungen Koreaner packten mit an beim deutschen Wirtschaftswunder, die Bundesregierung finanzierte die Regierung in Seoul mit günstigen Krediten.
570 Mark netto verdienten Krankenschwestern wie Buims Nachbarin Wou Chon Ja, das Zehnfache wie Zuhause, dazu waren Kost und Logis frei. “Von 70 Mark habe ich gelebt, 500 schickte ich jeden Monat nach Hause”, erzählt die 74-Jährige. Die Bereitstellung des Baulandes am Hang zum Japanischen Meer gut 40 Jahre später war ein Dankeschön der Lokalbehörden für ihren Einsatz, die Grundstücke gab es zum Sondertarif.
Inzwischen hat das Dorf 35 Häuser, in denen Heimkehrer aus Deutschland mit ihren Familien leben. Drei deutsche Männer – allesamt Rentner – mit ihren koreanischen Frauen sind darunter, sie wollen ihren Lebensabend hier verbringen. Sechs weitere gemischte Paare verbringen den Großteil des Jahres auf Namhae, rund neun Monate sind es bei den Ulmers, im Winter geht es nach Deutschland.
Reif für die Insel
Ulmer lernte seine Frau 1971 auf einem Tanzabend kennen, sie heirateten 1972. “Bei guten Sachen darf man nicht lange fackeln”, sagt er. Sie bekamen zwei Kinder und gingen viel auf Reisen. Ulmer arbeitete als Auslandslehrer in Peru und in Portugal, aber Heimat, das war für sie erst einmal Deutschland. Bis 2006, dann waren die Ulmers reif für die Insel. “Es war Zeit, auch mal ein paar Jahre hier zu leben”, sagt Buim. “Ich wollte mein Heimweh nicht mit ins Grab nehmen.”
Die Lebensgeschichten ähneln sich, die Gründe für die Umsiedlung auch. Schöne Lage am Meer, bessere Luft, milderes Klima und die Suche nach Heimat. “Aber geschenkt haben die uns nichts”, sagt Wilhelm Engelfried, 82.
Schön haben sie es in Südkorea, schön deutsch, aber längst nicht alles ist besser. Der Nachbarschaftsstreit zum Beispiel ist der gleiche, der Zank um Sauberkeit, um Recht und Ordnung vor allem. Die einen möchten an Koreas Küste am liebsten eine deutsche Enklave haben, geführt nach deutschen Sekundärtugenden. Die anderen sagen, “wir können hier nicht die Provinz Ostgermanien gründen” (Engelfried).
Im Sommer sind die Nerven besonders angespannt. Dann staut sich der Verkehr in den engen Straßen, den ganzen Berg hoch. Zehntausende neugierige Koreaner fallen dann in ihre Siedlung ein.
Verkehrte Welt
Das “Deutsche Dorf” ist eine Sensation in Südkorea, immer noch. Ihre Bewohner sind Hauptdarsteller einer Filmdokumentation “Endstation der Sehnsüchte”, die auf der Berlinale prämiert wurde. Sie werden angegafft, fotografiert, mit Fragen belästigt und in ihrer Ruhe gestört. Ungebetene Besucher zertrampeln die Vorgärten, dringen unaufgefordert bis auf die Terrassen und auch schon mal bis ins Wohnzimmer vor. “Es ist wie in einem Museumsdorf”, sagt Engelfried, der im Gegensatz zu manchen Nachbarn immer noch ein bisschen darüber lachen kann.
“Wenigstens fünf, höchstens zehn Jahre” wollte Herr Willi, wie ihn alle im Dorf nur nennen, bleiben. Jetzt sind die rum, und er will nicht zurück. “Es würde mir wehtun, wenn ich hier raus müsste”, sagt er. Ganz im Gegenteil zu seiner koreanischen Frau, die nach Deutschland möchte, lieber heute als morgen. “Was soll ich hier machen, wenn er krank wird”, sagt sie, “wie soll ich ihn pflegen?”Es ist eine verkehrte Welt, die sich da auftut. Heimat ist für die einen nicht mehr da, wo sie eigentlich herkommen. Und auch nicht da, wo sie gern hin möchten. “Meine Heimat ist da, wo meine Frau ist”, für Ulrich Ulmer reicht das, nicht aber für seine Frau. “Wir haben keine Heimat, immer fehlt irgendetwas”, sagt sie.
Jetzt, 40 Jahre nach ihrer Abreise nach Deutschland, ist sie zwar endlich wieder da, wo sie ihre Wurzeln hat und aufgewachsen ist, aber eben noch längst nicht zu Hause. Sie spricht Koreanisch “wie vor 40 Jahren”, stellt sie fest, und findet sich “nicht mehr richtig” zurecht in ihrer neuen, alten Heimat. “Zum Glück”, sagt Buim, “wohne ich in einem Ghetto.”
Quelle: http://www.spiegel.de/politik/ausland/suedkorea-das-deutsche-dorf-in-dogil-maeul-a-842756.html